Sara Velić: “Die meisten Studierenden sind armutsgefährdet.”

Wir haben mit Sara Velić, der Vorsitzenden der ÖH-Bundesvertretung, über Armut unter Studierenden gesprochen. Warum nimmt das niemand ernst? Wie viele betrifft es? Gibt es Lösungsvorschläge? Und was haben Nudeln und Pesto damit zu tun?

Captain Campus: Wenn du auf dein bisheriges Leben als Studierende zurückblickst; was war die größte Hürde für dich?

Sara Velić: Die Frage, wie ich das schaffen soll, von Vorarlberg in eine fremde Stadt zu ziehen und mich finanziell zu erhalten. Meine Eltern unterstützen mich zum Glück zu einem Großteil, aber die eigene Wohnung und das viele bürokratische Drum-und-Dran waren doch viel. Ich habe am Anfang auch sehr langsam studiert, weil ich mich oft nicht ausgekannt habe. Leider. Das ist zum Beispiel ein großer Nachteil, wenn man die erste ist, die in der Familie studiert.

First Gen Student Life ✌️

Sara: Voll …

„In Österreich wächst man damit auf, dass man über Geld nicht redet.“

Weil du eben gerade die finanziellen Fragen angesprochen hast. Mit dem Thema wird’s auch vielen anderen Studierenden ganz ähnlich gehen, oder?

Sara: Ja, genau. Studierendenarmut ist in Österreich für viele die bittere Realität. Es wird aber kaum darüber gesprochen. Außer in den Witzen am Ende des Monats: “Jetzt kann ich nur noch Nudeln und Pesto essen.” Dahinter steckt aber bittere Studierendenarmut.

Woran liegt es, dass wir nur in Form von schlechten Witzen über Studierendenarmut sprechen? Bzw. in Form von Galgenhumor.

Sara: (lacht) In Österreich wächst man damit auf, dass man über Geld nicht redet, darüber, dass man sich von dem System alleingelassen fühlt. Und man konnotiert das ja oft auch mit negativen Eigenschaften. Dass man zu faul ist zum Beispiel. Aber es ist oft nicht die Schuld von Einzelnen, weil man in vielen Formen benachteiligt wird und weil das Studium sich oft nicht mit Jobs vereinbaren lässt. Wenn man überhaupt einen findet.

Bei vielen Studis hat sich die finanzielle Lage in der Pandemie verschlechtert. Woran liegt das?

Sara: Einerseits daran, dass viele Studierenden-Jobs weggefallen sind. Gastro, Eventbranche und generell sind geringfügige oder andere atypische Beschäftigungsverhältnisse als erstes verloren gegangen. Und hier gab es auch keine soziale Entlastung wie durch die Kurzarbeit. Da sind die Studierenden total durch das Raster an Sozialhilfe in Österreich gerutscht. Und die Politik hat sich nicht sonderlich dafür interessiert, das zu ändern. Man musste trotzdem Studiengebühren zahlen und auch die Beihilfen wurden nicht erhöht. 

Ist das erst seit der Pandemie ein Problem?

Sara: Nein. Viele Studierende wohnen schon länger in sehr stark sanierungsbedürftigen Wohnungen und können es sich nicht leisten, da auszuziehen oder etwas zu sanieren. Andere, vor allem die aus Drittstaatländern (nicht EU oder europäischer Wirtschaftsraum) hatten auch politisch nochmal Probleme oder konnten sich das Studium hier durch die hohe Inflation in ihren Heimatländern nicht mehr finanzieren. Und die konnten auch keine Studienbeihilfe beziehen.

Wie viele betrifft diese Studierendenarmut?

Sara: Laut Sozialerhebungen hat circa ein Drittel der Studierenden finanzielle Probleme. Hier ist allerdings nicht enthalten, in welchem Ausmaß. Die Armutsgefährdungsgrenze liegt aber bei 1.300 Euro im Monat und ich würde sagen, dass die meisten Studierenden, die ich kenne, nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Was vor allem ein Problem ist, weil die Wohnkosten sehr hoch sind.

Ganz genau genommen: 1.328 Euro pro Einpersonenhaushalt und 1.992 Euro für Zweipersonenhaushalte. Aber da fallen trotzdem noch mehr als genug drunter …

captain-campus-qoute

Sind da manche Gruppen besonders betroffen?

Sara: Ja. Studierende mit Migrationserfahrung oder mit Betreuungspflichten sind doppelt so stark belastet und sagen auch doppelt so oft, dass sie finanzielle Probleme haben. 

Glaubst du, dass die Dunkelziffer nochmal höher ist? Weil du sagst, es wird nicht genau erhoben, wie viel Geld zur Verfügung steht.

Sara: Ich glaube, vielen Studierenden ist nicht bewusst, dass sie unter die Armutsgefährdungsgrenze fallen. Es wird so belächelt in Österreich, dass man beim Studieren “knapp bei Kasse” ist. Und viele suchen sich dann eben auch eine Erwerbstätigkeit. Es sind ja auch circa 60 Prozent der Studierenden berufstätig. 

Trotz Studium?

Das ist ja ein weiteres Problem. Man muss arbeiten, um sich das Studieren zu finanzieren. Diese Studierenden brauchen dann aber länger und müssen Studiengebühren zahlen, haben dann wieder finanzielle Probleme … Es ist ein Teufelskreis.

Wir fordern als ÖH, dass die Studienbeihilfe auf circa 1.000 Euro erhöht wird.

Was wäre deine Strategie, um gegen diese Studierendenarmut vorzugehen?

Sara: Da gibt es mehrere Baustellen. Die Studienbeihilfe ist ein wichtiger Schlüssel dafür. Die Beträge sind aktuell zu niedrig. Meistens 500 Euro, in Ausnahmefällen liegen sie bei 700 Euro im Monat. Wenn die Miete schon 400 bis 500 Euro pro Monat kostet, wird sich das nicht gut ausgehen für alle anderen Kosten. Die muss also auf jeden Fall erhöht werden. Wir fordern als ÖH, dass die Studienbeihilfe auf circa 1.000 Euro erhöht und automatisch an die Inflation angepasst wird.

Das passiert noch nicht?

Sara: Nein und es ist ein Wahnsinn. Man hat die Studienbeihilfe das letzte Mal an die Inflation angepasst, als Sebastian Kurz Kanzler wurde. 2017. Und grundsätzlich sollten einfach auch mehr Studierende die Studienbeihilfe bekommen. Die Altersgrenze von 30 Jahren gehört abgeschafft, die Einkommensgrenze erhöht und die Studienbeihilfe auch für Studierende aus Drittstaaten geöffnet.

Was wäre mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für Studierende?

Sara: Ich würde es eher mit einem sozial treffsicheren System wie der jetzigen Studienbeihilfe angehen. Den Studierenden, die besonders benachteiligt sind, Chancengerechtigkeit ermöglichen. 

Damit gäb’s das Problem, dass Studierende sich immer rechtfertigen müssen. Mit dem Punkt “über Geld spricht man nicht” – könnte das schwierig sein.

Sara: Das auf jeden Fall. Man muss diese Unkultur auf jeden Fall aufbrechen und sich trauen, darüber zu reden. Schlussendlich geht es ja um die finanziellen Verhältnisse der Studierenden. Und auch die Antragsstellung für Beihilfen muss niederschwelliger werden, damit man sich das traut. Ich glaube aber, dass in der Politik die Strategie fehlt, wie man mit der Studierendenarmut umgehen soll. Das muss sich grundlegend ändern. Bei den Studierenden und in der gesamten Gesellschaft.

„Der Leistungsdruck ist stark angestiegen. Das sorgt für viele psychische Probleme.“

Findest du es gut, die Studienbeihilfe an eine Mindest-ECTS-Zahl zu koppeln?

Sara: Nein. Das ist dann auch wieder ein leistungsbasiertes Stipendium, wodurch nur mehr Druck für die Studierenden entsteht. 

Dieser Leistungsdruck ist generell ein Problem, oder?

Sara: Ja und er ist stark angestiegen. Der Zeitaufwand für ein ECTS ist oft mehr als die gesetzlichen 25 Stunden. Das sorgt für viele psychische Probleme, die uns im Leben nachhaltig begleiten. Die Nachfrage der Studierenden ist da auch sehr hoch. Die psychologische Studierendenberatung wurde während der Pandemie um 40 Prozent aufgestockt und sie ist (oder die Angestellten sind)  immer noch am Limit. 

Aufstocken von psychotherapeutischen Plätzen ist ja eher Symptombekämpfung. Siehst du eine Möglichkeit, wie man den Druck prinzipiell reduzieren könnte?

Sara: Ja, das stimmt. Da müsste man eigentlich das ganze Hochschulwesen neu denken und den Druck aktiv rausnehmen. Ein großes Problem sind Prüfungsphase und Prüfungsangst. Während Corona gab es zusätzlich noch diese absurde Paranoia. Die Studierenden könnten ja schummeln! An der TU Wien musste man mit mehreren Kameras gleichzeitig Prüfungen schreiben. Das zeigt nur, wie fehlgeleitet diese Erwartungen im Hochschulwesen sind. Es geht nur um Leistungen, die dann auch für die Karriere verwertbar sind. Nicht mehr um das freie Forschen und das freiwillige Weiterbilden.

Nur 22 Prozent von Studieninteressierten mit Eltern, die nicht Akademiker*innen sind, beginnen ein Bachelorstudium.

Nochmal zurück zur Studierendenarmut: Es gibt doch bestimmt Modelle außerhalb Österreichs, wo das besser gelöst wird. Gibt’s da etwas, woran ihr euch orientiert?

Sara: Viele andere Hochschulsysteme basieren auf sehr hohen Studiengebühren und das “Sozialmodell” sind Stipendien, die Studierende von den Gebühren ausnehmen. Das steht im Widerspruch mit dem offenen Hochschulzugang. Mir ist da der österreichische Weg an sich schon lieber, aber da gibt es noch viel zu tun. 

Zum Beispiel?

Sara: Nur 22 Prozent von Studieninteressierten mit Eltern, die nicht Akademiker*innen sind, beginnen ein Bachelorstudium. Bis zum PhD ist es nicht mal mehr ein Prozent. Da muss man sich eben sich mit der Studienbeihilfe und der Abschaffung der Studiengebühren, wie sie in Österreich bestehen, noch einiges überlegen.

Dann anders: Wenn alles möglich wäre, wie würdest du die finanzielle Lage von Studierenden verbessern?

Sara: Erstens: Die Studiengebühren abschaffen. Zweitens: Eine kostenlose studentische Selbstversicherung. Drittens: Die Studienbeihilfe ausbauen, erhöhen, erweitern und ermöglichen, dass man sie über die Mindeststudienzeit hinaus beziehen kann. Viertens: Infrastruktur zum Lernen an den Hochschulen verstärken. Lernplätze mit Laptops zum Beispiel. Fünftens: Gratis Internet. Und Sechstens: Das Wohnen. Die Wohnkosten können nicht weiter steigen, steigen, steigen. Sie sind von 2009 bis 2019 für die Studierenden um ein Drittel gestiegen. Da braucht es einen bundesweiten Plan.

Und wenn du nur ein Ding für alle Studierenden in Österreich ändern könntest; was wäre es?

Sara: Ich würde die Studiengebühren abschaffen.

Andere Studis lesen auch