Wir haben in den letzten Wochen auf Captain Campus über Gewalt an FLINTA-Personen an Unis geschrieben. Über Catcalling und sexuelle Belästigung und über Stellen für Opfer und Täter*innen. Aber auch Männer sind von Gewalt betroffen. Wir sprechen mit Michael M. Kurzmann vom Verein für Männer und Geschlechterthemen Steiermark über Männlichkeitsbilder, Gründe für Gewalt, warum es so schwer für Männer ist, von Erfahrungen zu berichten und darüber, was du tun kannst, wenn etwas in deinem Umfeld passiert.
Captain Campus: Du arbeitest ja viel mit jungen Männern, Burschen und auch erwachsenen Männern: Was kommt öfter vor? Männer in der Täter- oder Opferrolle?
Michael M. Kurzmann: Als Leiter der Fachstelle für Burschenarbeit sehe ich beides, aber mehrheitlich wird mit uns Kontakt aufgenommen, wenn Burschen selbst Gewaltverhalten zeigen. In der gleichen Person können auch Täter- und Opferaspekte vorkommen. Gerade junge Männer, die ausgegrenzt oder die marginalisiert sind, entwickeln oft eine „Protest-Männlichkeit“ und zeigen negative Verhaltensweisen, die ihnen selbst und anderen schaden. Aber es ist oft auch sehr schwer für junge Männer, über die Gewalterfahrungen zu sprechen. Vor allem bei sexualisierter Gewalt.
Die Dunkelziffer ist natürlich gigantisch, aber wie viele Männer sind tatsächlich von sexualisierter oder häuslicher Gewalt betroffen?
Einer von zehn Männern oder Burschen waren oder sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Zum Vergleich: Bei Frauen sind es drei von zehn. Bei häuslicher Gewalt – Partnerschaftsgewalt oder Gewalt im sozialen Nahraum – sind laut Zahlen vom Gewaltschutzzentrum Steiermark circa 20 Prozent der betreuten Personen männlich. Da geht es um Männer in Paarbeziehungen, aber auch um männliche Kinder und Jugendliche, die Gewalt von Familienangehörigen erfahren.
Von wem wird die Gewalt ausgeübt? Von Männern?
Es gibt auch Fälle, bei denen es sich bei den Täter*innen um Frauen handelt, auch bei sexualisierter Gewalt. Im Hinblick auf Partnerschaftsgewalt geht es dabei aber eher um leichtere Formen der Gewalt, was Schwere, Dauer und Folgen betrifft. Je schwerer, häufiger und folgenreicher die Gewalthandlungen, desto öfter sind Männer die Täter. Ein letzter Punkt noch: Männer sind natürlich sehr stark von körperlicher Gewalt im öffentlichen Raum betroffen. Durch andere Männer.
Gibt es bestimmte Gruppen an Männern, die besonders von Gewalt betroffen sind?
Vor allem die, die einem gewissen Männlichkeitsbild nicht entsprechen, werden dafür bestraft und sanktioniert. Und auch Männer, die eher am Rand der Gesellschaft stehen, erfahren öfter Gewalt. Auch unter Männern herrschen starke Hierarchien. Die Männlichkeitsforscherin Raewyn Connell sprach von untergeordneter und marginalisierter Männlichkeit. Homosexuelle Männer, Männer in weiblich konnotierten Berufen, Männer, die von Armut betroffen sind, und Männer mit Flucht- und Migrationsgeschichte.
Du sagst ein Zehntel der Männer erlebt sexualisierte Gewalt. Warum sprechen wir dann nicht mehr darüber? Das ist ja doch recht viel.
In vielen Köpfen steckt ein gewisses Männlichkeitsbild. Ein Mann muss stark sein, darf keine Schwäche zeigen, muss dominant sein und autonom. Von Gewalt betroffen zu sein, gerade von sexualisierter Gewalt, ist eine Ohnmachtserfahrung und darüber zu sprechen, kollidiert mit diesem Männlichkeitsbild. Das macht es sehr schwierig, weil es dadurch sehr schambesetzt ist.
Für Männer ist es besonders schwierig, über Betroffenheit zu sprechen.
Welche Reaktionen gibt es, wenn Männer als Opfer sich öffnen?
Betroffene berichten von oft problematischen Zuschreibungen: Wenn ein Mann die Tat begangen hat, etwa die Frage: “Wirst du jetzt homosexuell?” Oder der Gedanke, dass Personen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, in Zukunft selbst regelhaft zu Täter*innen werden. Diese Form der Kausalität stimmt nicht nur nicht, sie ist sogar gefährlich.
Inwiefern unterscheidet sich der Unwille, darüber zu reden, bei Männern von dem, der bei Frauen vorherrscht?
Für Männer ist es besonders schwierig, über Betroffenheit zu sprechen, weil es von diesem Männlichkeitsbild abweicht. Gleichzeitig gibt es geschlechterübergreifende Gründe. Wir wissen, wie schwierig es für Frauen ist, über sexualisierte oder häusliche Gewalt zu sprechen, weil es ja besonders schambesetzt ist. Fälschlicherweise treten oft Schuldgefühle bei den Opfern auf. Es ist auch eine Strategie der Täter*innen: „Du hast es ja gewollt. Du bist ja mitschuldig. Du hast es selbst provoziert.” Und oft genug werden Opfer auch nicht ernst genommen. Auch von behördlicher Seite.
Was kann ich tun, wenn ich mitbekomme, dass einem männlichen Freund von mir Gewalt widerfährt?
Versuchen zu signalisieren, dass man ansprechbar ist, wenn die Person etwas braucht. Oft handelt es sich bei den Täter*innen um Vertrauenspersonen und so etwas erschüttert das Vertrauen massiv. Deshalb fällt es Menschen, die Gewalt erfahren haben, auch besonders schwer, wieder Vertrauen zu fassen. Man sollte die Gesprächsangebote auch immer wieder machen. Und jedenfalls passende Beratungsstellen nennen, damit er für sich Handlungsoptionen ausloten kann. Die Person muss den Prozess aber selbst steuern. Sie muss selbst entscheiden können, wann sie mit wem redet.
Egal, wer du bist, ein Besuch bei solchen Beratungsstellen steht natürlich immer allen offen.
Hilft es, als Freund vor einer betroffenen Person Schwäche zu zeigen, um ihr das Gefühl zu geben, dass es in Ordnung ist, „schwach“ zu sein?
Ja, auf jeden Fall, weil es oft schwierig ist, im Freundeskreis über bestimmte Themen zu sprechen. Es gibt ja oft Druck, ein gewisses Bild zu wahren.
Wenn Frauen über solche Erfahrungen erzählen, gibt es oft Reaktionen wie: “Was hattest du an? Hast du geflirtet?” Gibt es bei Männern ähnliche Reaktionen?
Männer als Betroffene sexualisierter Gewalt sind zunächst einmal für viele erst gar nicht vorstellbar. Es geht stark um Bilder von Männlichkeit: “Stell dich nicht so an. Du hättest dich doch wehren können.“ Oder um die bereits erwähnten Zuschreibungen: „Wirst du jetzt selbst zum Täter? Wirst du homosexuell?”
Dass die meiste Gewalt von Männern ausgeübt wird, heißt nicht, dass die meisten Männer gewalttätig sind.
Gehen wir auf die zweite Rolle ein: Männer als Täter. Die meisten Gewaltverbrechen werden von Männern begangen. Wie kommt es zu so einem Verhalten? Warum greifen Männer zu so einem Verhalten?
Seit Jahrhunderten wurden bei Männern gewisse Gefühle gefördert. Aggression, Durchsetzungsvermögen und Dominanz werden in unserem Männerbild verlangt, während Schwäche, Unsicherheit oder Angst verpönt sind. Diese tiefe Prägung wird auch mit Gewalt durchgesetzt und reproduziert. Es wird kulturell unterstützt, dass das zum Mannsein dazu gehört.
Viele Männer stört es, wenn die Täterrolle auf Männer projiziert wird. Es kommt das Gefühl auf, dass es eine Generalschuld gibt. „Alle Männer sind Täter.“ Wie können wir dieses Gespräch sinnvoll umgestalten?
Es ist sehr wichtig, Gewalttaten durch Männer zu thematisieren und darüber zu sprechen. Aber dass die meiste Gewalt von Männern ausgeübt wird, heißt nicht, dass die meisten Männer gewalttätig sind. Die meisten Männer leben friedfertig. Dieses Missverständnis gilt es aufzuklären.
Davon profitieren dann auch Männer, oder?
Alle Geschlechter profitieren, wenn wir patriarchale Geschlechterverhältnisse ändern, weil dann für alle Geschlechter mehr Freiheit möglich ist. Viele Männer, Frauen und alle Personen, die gewissen binären Codes nicht entsprechen, können ihre Freiheit aktuell nicht leben. Und es gibt ja auch für Männer eine Schattenseite dieser männlichen, patriarchalen Rolle.
Daraus resultieren unter anderem eine geringere Lebenserwartung, höhere Suizidraten und mehr Suchterkrankungen.
Wie sieht diese Schattenseite aus?
Wir sprechen in der Männer- und Geschlechterforschung von Kosten der Männlichkeit. Männer erfahren auch sehr starke Einengungen. Sie erleben großen Druck und Stress, ein gewisses Bild zu wahren: Man darf keine Schwäche zeigen. Man muss immer der Starke sein. Dieser Stress zeigt sich in Gesundheitsdaten. Männer nehmen sich viel später medizinische und psychosoziale Unterstützung. Sie negieren lange Zeit körperliche und psychische Symptome, haben einen sehr funktionalistischen Bezug zu sich und ihrem Körper. Daraus resultieren unter anderem eine geringere Lebenserwartung, höhere Suizidraten und mehr Suchterkrankungen.
Gibt es da eine Geschichte, die dir einfällt?
Jack Urwin erzählt in seinem Buch Boys don’t Cry von seinem Vater aus dem Arbeitermilieu, der mit 51 Jahren an einer Herzattacke stirbt. Durch die Obduktion wurde klar, dass er bereits zuvor einen Herzinfarkt gehabt hatte, aber sich nie hat behandeln lassen und nie darüber gesprochen hat. Jack Urwin wirft in seinem Buch die Frage auf: Könnte sein Vater noch leben, wenn er sich früher medizinische Unterstützung geholt hätte oder wenn er früher über seine gesundheitlichen Probleme gesprochen hätte?
Zeigt sich das auch in Beziehungen?
Ja, Männer berichten, dass sie sich schwer tun, sich auf Beziehungen einzulassen. Viele haben auch den Wunsch, wenn sie Kinder haben, mehr von den Kindern mitzubekommen und sich nicht im Beruf zu Tode zu arbeiten. Neben all den Privilegien wird auch ein Mangel erlebt.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Männerrolle hat auch Schattenseiten, bringt Einengungen und bringt Verluste im Leben. So kann man Männer dann auch ins Boot holen, weil die Geschlechterverhältnisse eben auch Schattenseiten für die Männer haben.
Gewalt ist niemals Privatsache. Es ist wichtig hinzuschauen und Gewalt nicht einfach stehenzulassen.
Was kann ich als Mann machen, wenn ich in meiner Freundesfreunde Täterverhalten erkenne?
Es kommt natürlich darauf an, um welche Form von Gewalt es sich handelt. Bei sexistischen Bemerkungen beispielsweise kann man sofort darauf reagieren und signalisieren, dass es nicht okay ist. Es ist besonders wichtig, dass Männer sich gegenseitig darauf hinweisen.
Und bei anderen Formen der Gewalt?
Grundsätzlich gilt: Gewalt ist niemals Privatsache. Es ist wichtig hinzuschauen und Gewalt nicht einfach stehenzulassen. Man sollte signalisieren, dass so etwas nicht in Ordnung ist und dass das Verhalten auch Konsequenzen für die Person selbst hat. Man kann die Person dann auch zu einem Hilfsangebot schicken, zum Beispiel zur Männerberatung. Das Vorrangigste ist aber, dass die von Gewalt betroffene Person geschützt ist und dass ihr*ihm Unterstützung und Beratung angeboten wird.
Was lernt man bei diesen Hilfsangeboten in der Männerberatung?
Ein Angebot ist zum Beispiel das Gruppentraining bei Partnerschaftsgewalt. Man lernt darin, besser mit Konfliktsituationen umzugehen, die eigenen Triggerpunkte kennenzulernen. Sehr oft ordnen Männer Situationen falsch ein und fühlen sich provoziert. Zum Beispiel wenn die Freundin oder Frau spät nach Hause kommt. Man lernt, so etwas anders einzuordnen und Strategien, um damit besser umzugehen. Einfach aus dem Raum gehen oder mit einer anderen Person sprechen, anstatt aggressiv zu werden.
Gibt es Strategien, um solche Kritik anzubringen?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Man kann aus einer pragmatischen Ebene reagieren, indem man auf die Konsequenzen hinweist. Was das für eine Partnerschaft bedeutet, bis hin zu rechtlichen Konsequenzen. Oder man kann auf emotionaler Ebene reagieren, und die eigene Betroffenheit zum Ausdruck bringen. “Mich macht betroffen, was du da tust.”
Welchen Rat möchtest du jungen Männern, vor allem Studenten, mitgeben?
Vielleicht etwas pathetisch aber: Eine andere Welt ist möglich. Kriegsgeschehen, Putin, Klimazerstörung. Vieles davon sind Effekte von einer schädlichen Männlichkeit. Hier gilt es, Gegenentwürfe zu schaffen. Das kann im ersten Schritt heißen, Selbstverständlichkeiten und Privilegien aufzugeben, aber ich glaube, dass das auch viel bringt.